Hamhŭngs Zwei Waisen (Für Konrad Püschel)
Ein ostdeutscher Internationalismus in Nord-Korea durch einen chrono-politischen Blick

Doreen Mende
Veröffentlichungsdatum: 10.2019

 

„Die Erzählung besagt, dass ein Waisenkind, das nach vielen Jahren des Exils das Haus seiner Eltern wiederentdeckte, zur eigenen Überraschung sich dort bereits vorzufinden sieht – eine Doppelgängerin von ihr, identisch bis ins kleinste Detail, welche es offensichtlich als Eindringling begrüßte. Bis zu dem Tag, an dem ein Nachbar (ein Skeptiker) kam, um sie beide zu sehen – mit einer Katze. Beim Anblick dieser zuckte die Thronräuberin vor Schreck zusammen und nahm wieder ihre wahre Gestalt an – die einer Ratte.“ – Chris Marker, Coréennes, 1959[1]

 

 

Der Wiederaufbau der nordkoreanischen Industriestadt Hamhŭng, welche unter anderem einen Jugendklub mit Theatersaal und Kinoapparat als Geschenk der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) umfasst[2], ist das Projekt eines Architektur-Internationalismus aus der DDR zwischen 1955 und 1962. Der am Bauhaus ausgebildete Architekt Konrad Püschel aus der DDR leitete als „Stadtbaubrigadier“ zwischen 1955 und 1959 den ersten Bauabschnitt in Hamhŭng.

Auf der Suche nach Fotoaufnahmen vom Hamhŭng im Jahr 2018 landete ich auf flickr. Sehr viele der Alben des flickr-Nutzers enthalten Aufnahmen verschiedener Orte in Nordkorea wie Haeju, Kaesong, Pyongyang oder Wonsan. Andere Alben sammeln Fotos von Ortschaften in Ostdeutschland wie Brandenburg, Teltow oder Wernigerode, etc. Das Album „Hamhŭng“ hat 56 Aufnahmen, datiert auf März 2008, mit folgender Kurz-Beschreibung: „Hamhŭng ist die zweitgrößte Stadt der DVRK und ein wichtiges Industriezentrum. Die Altstadt wurde während des Koreakrieges stark zerstört und mit Hilfe der DDR von 1955–1962 wieder aufgebaut. Mehrere Gebäude aus dieser Zeit zeigen den Einfluss des Bauhaus-Designs. Das Projekt endete aus politischen Gründen zwei Jahre früher als geplant.“[3]

Der flickr-Nutzer kennt sich sehr gut aus. Es sind Informationen, die nicht ohne weiteres abrufbar sind so wie es üblicherweise mit den bekannten Bauhaus-Projekten der Fall ist. Ähnlich vieler Architekturprojekte aus der DDR in geopolitischen Geografien der „sozialistischen Freundschaft“[4] so ist auch der Wiederaufbau der Industriestadt Hamhŭng durch die Städte- und Hochbaubrigaden aus der DDR in Nordkorea, bzw. der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK), nach dem verheerenden Krieg von 1950–1953 bisher weder auf der Ebene der Architekturpraxis (mikro-politisch) ausreichend erforscht noch über die Extreme des globalen Kalten Krieges (makro-politisch) hinaus kaum kontextualisiert worden. In Wertschätzung vor allem kürzlich erschienener Publikationen[5] sei jedoch zu erwähnen, dass die Intensität der Debatten sich aktuell ändert. Sowohl diesen als auch meiner eigenen kuratorischen Forschung zum Hamhŭng-Projekt von Konrad Püschel aus der DDR liegen möglicherweise auch die Sorge um politische Tendenzen im gegenwärtigen Europa zu Grunde, welche im Zusammenhang der „crises multiformes“[6] (multidimensionale Krisen) bzw. eines „global swing to the right“[7] zu lesen sind, die im Zusammenhang transgenerationaler Symptome aus der Erfahrung von Sprachlosigkeit, des Unbehagens, der Ignoranz oder der Brüche stattfinden als eine der vielen Folgen eines „transnational turn“[8] um 1989. Als ob Chris Marker in die Zukunft hat blicken können, beschreibt er nach seiner Reise nach Nordkorea Mitte der 1950er-Jahre in Anlehnung an ein koreanisches Märchen die Figur der Suche nach dem Erinnern als Waise. Mit Chris Marker gedacht kommt heute ein solches Hamhŭng-Projekt vielmehr als eine Waise der Geschichte daher, oder müsste sogar als solche eine Geschichtsschreibung konfrontieren, die nunmehr im Haus der Eltern auftaucht „nach vielen Jahren des Exils“ im Unbewussten der Geschichte, um die faschistoide „Thronräuberin“ des Erinnerns zu entlarven. Eine Waise, deren gelebte Erfahrungen die Formen von „ephemere Teile, die Verschnitte und die Ausschnitte.“ darstellen, die „in den Mülleimer der Geschichte verschwunden“[9] wären, d.h., deren Lebensraum, wenn überhaupt, in den Randzonen von Institutionen und Bibliotheken zu finden ist.

Im Fall des Hamhŭng-Projektes von Konrad Püschel ist die bis vor kurzem „peinliche Stille“[10] über eines der größten Bauprojekte der DDR nach dem Krieg jedoch umso erstaunlicher, da im ersten Abschnitt sowohl der Planung als auch Realisierung der Architekt Püschel als „Stadtplanungsbrigadier“ das Projekt leitete, welcher von 1926 bis 1930 am Bauhaus Dessau bei Hannes Meyer, Ludwig Hilbersheimer und anderen Architektur studierte. Während seiner Studienzeit war Püschel auch am Bau der Siedlung Dessau-Törten von Walter Gropius beteiligt, wo er grundlegende stadtplanerische Konzepte erprobte, mit denen kostengünstige Lebensräume für Werktätige – zwei Jahrzehnte vor dem sozialistischen Aufruf zur „Industrialisierung des Bauens“ (Chruschtschow, 1954) – realisiert wurden. Überhaupt ist es Püschels Studium am Bauhaus zu verdanken, dass heute eine umfassende Fotodokumentation seiner Arbeit in Nordkorea (1956–1959) im Archiv der Stiftung Bauhaus Dessau zu finden ist, die bauhaus imaginista dazu veranlasste, einen Forschungsauftrag zu vergeben. Im Zuge meiner Erforschung der Arbeit von Konrad Püschel in Nordkorea konnte ich kaum – bis auf wenige Ausnahmen[11] – auf existierende Analysen des Stadtbauprojektes in Hamhŭng zurückgreifen. Diese Lücke in der sonst akribischen Bauhaus-Forschung bestätigt die „peinliche Stille“, die Fredric Jameson in Bezug auf Narrationen, Erzählungen, Archive sowie Projekte, die im Zusammenhang mit dem Staatssozialismus der DDR entstanden sind, diagnostiziert. Er stellt fest, dass Projekte aus der DDR einem „systematische Vernachlässigung“ ausgesetzt sind durch „West-Rheinische liberale und radikale Intellektuelle gleichermaßen,“ die oft „im Namen des Stalinismus und des Totalitarismus“[12] Projekte wie die aus Hamhŭng moralisch kategorisiert bzw. verstummt lassen haben. Eine Stille, welche mit den Jahren sich zu normalisieren schien. Perfekt für die Ankunft dieses Double, vom dem Chris Marker in Coréennes (1959) spricht. Hier füllt es irrlichternd den Platz der Verschwundenen, um schließlich den Thron der Revolution zu rauben.[13] Es ist die Stille des Westens, die nunmehr Stück für Stück in Frage gestellt bzw. vernachlässigt wird – durch Projekte wie bauhaus imaginista, welches das Wieder-Auftauchen dieser Waisen der Geschichte provoziert; eine Waise zum Beispiel mit dem Namen Hamhŭng oder Städtebaubrigadier, die eine Praxis außerhalb der binären Extreme von Konformismus und Dissidentismus zur sozialistischen Realität beschäftigt. Diese Praxis verlangt zudem nach einer Analyse der Abweichung zum Sowjet-Sozialismus, welches das Hamhŭng-Projekt bereits in der Gründerzeit der DDR (1950er) beanspruchen zu scheinen wollte. Bis in die frühen 1970er-Jahre wurde dem Bauhaus in Dessau der Vorkriegszeit von der Polit-Elite der DDR zudem ein „bürgerlicher Kosmopolitanismus“ nachgesagt, der sich mit den ideologischen Prinzipien des neu gegründeten Bauern- und Arbeiterstaates nicht vereinbaren ließ. Obwohl doch gerade die „Tätigkeit der Gruppe Hannes Meyer in der UdSSR in den Jahren 1930 bis 1937“ – wie Konrad Püschel einen Artikel in Form+Zweck von 1976 betitelte – die Ausrichtung des Bauhaus in die Nähe der Komintern, der Vierten Kommunistischen Internationale, rückt.

Püschel ging 1931 mit Philipp Tolziner zunächst nach Moskau. Kurze Zeit später war er beteiligt an der Planung sowie Realisierung einer „Sotsgorod“ (sozialistische Stadt) in der Industriestadt Orsk im Ural,[14] welches ein weiteres Projekt für Püschel war, seine Arbeit an stadtplanerisch-modernistischen Prozessen zu verfeinern. Das Hamhŭng-Projekt der DDR in Nordkorea der 1950er-Jahre könnte dabei jedoch bereits als Akt der Selbstbestimmung (self-determination) des neu gegründeten Staates verstanden werden. Während Moskau mit Pjöngjang verhandelte, finden sondierende Gespräche am Rande der Genfer Konferenz 1954 statt, obwohl die DDR von den Vereinten Nationen noch lange nicht als souveräner Staat anerkannt, d.h. Zaungast der Konferenzen war: „Otto Grotewohl sagte einem nordkoreanischen Delegierten, sein Land sei bereit, beim Wiederaufbau einer der im Krieg zerstörten Städte zu helfen.“[15] Das erwirkte noch im selben Jahr der Konferenz in Genf einen unabhängigen Vertrag zwischen der DDR und DVRK zum Wiederaufbau Hamhŭng. Diese Abweichung vom Sowjet-Sozialismus in Moskau könnte ein Grund dafür sein, dass der Wiederaufbau unter der Leitung von Konrad Püschel und anderen[16] in Deutsche Architektur nicht dokumentiert wurde, obwohl das Hamhŭng-Projekt das umfangreichste Projekt der DDR sowohl als sozialistischer Städtebau als auch der „internationalen Solidarität“ war: Das großformatige Journal Deutsche Architektur wurde 1952 gegründet und herausgegeben von der Deutschen Bauakademie der DDR – über viele Jahre unter der Chef-Redaktion von Kurt Liebknecht, Architekt und Neffe von Karl Liebknecht – und dokumentierte im Detail Stadtbauprojekte, Gebäudepläne, Reden des Zentralkomitee der DDR sowie der Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) zum Bauwesen sowie Bauten der DDR im Ausland, d.h., das Journal ist damit auch eine Dokumentation der Architektur des Aufbaus eines staatssozialistischen Staates bzw. mit der Mauerschließung am 13. August 1961 einer kommunistischen Diktatur.

Nicht zufällig findet eine der Differenzierungen im Rahmen des internationalen Forschungsprojektes bauhaus imaginista außerhalb akademischer Diskursökonomien statt. Denn eine zeitgenössische Differenzierung des Stadtbauprojektes in Hamhŭng benötigt die bedingungslose Unterstützung von para-akademischen Forschungsmethoden, welche oft Methoden künstlerischen Handelns oder zukunftsorientierten Spekulierens sind. Gerade diese Methoden sind es, mit denen das Hamhŭng-Projekt in Bezug auf „ineinandergreifende Geschichten von ungleichen Modernitäten“[17] bzw. „ineinandergreifende Geografien“[18] analysiert werden kann. Um der Spezifik dieses Architektur-Internationalismus aus der DDR näher zu kommen, galt mein Interesse an Konrad Püschels Arbeit in Nordkorea den Produktionsbedingungen als Konglomerat von politischen, sozialen und kulturellen Elementen, welche die „Planung des Wiederaufbaus der Städte Hamhung und Hungnam in Nordkorea durch die DAG-Städtebaubrigade der DDR“[19] ermöglichte. Die Untersuchung der Produktionsbedingungen erlaubte, sowohl mikro- also auch makro-strukturelle Narrationen von architektonischer, edukativer, sozialer sowie politischer Bedeutung in Betracht zu ziehen. Mit anderen Worten, mit wem hat die Waise „Hamhŭng“ studiert? Was hat sie gesehen? Was hat sie gedacht? Womit war sie nicht einverstanden? Wem hat sie zugehört? Welche Bücher hat sie gelesen? Welche Filme geschaut? Jedoch im Unterschied zur Arbeit der Architekturhistorikerin, die so präzise wie möglich anhand vorgefundener Dokumente der Vergangenheit so etwas wie eine Geschichtsstunde detaillieren muss, mobilisiert eine „para-disziplinäre Tendenz“[20] des kuratorischen Arbeitens im Feld der Kunst ein Außen der Geschichtlichkeit am Ort der „Monsterwunden“[21] Dieses Außen beansprucht die Artikulation des Blickes dieser Waisen der Geschichte wie Chris Marker sprechen würde, d.h., das Außen der Geschichtlichkeit wirft einen Blick der Gegenwart – zum Teil konfrontiert mit „peinlicher Stille“ aufgrund einer Politik der Macht oder mit der Missbilligung des Double, der die Waise als Eindringling wahrnimmt. Der Blick der Waisen mobilisiert eine chronopolitische Gegenwart, d.h. eine asymmetrische Gegenwart, in der sich Affekte von Widerwille und Wertschätzung mischen, um die Autorität des Dokuments als Methode der Geschichtsschreibung gegen sich selbst zu richten.

Während meine kuratorische Arbeit versuchte, mit Hilfe von Archivmaterial mit einer historischen Aufbereitung des Hamhŭng-Projektes von Püschel im engen Kontakt zu bleiben, ginge es darüber hinaus auch um eine kritische Reflektion sowie Artikulation dieser historischen Aufbereitung in Bezug auf Fragestellungen der Gegenwart. Gemeinsam mit der konzeptuelle Grafikerin Laure Giletti ist daraus eine Schichtung von Erzählsträngen entstanden, die die Form einer räumlichen Installation unter dem Titel Hamhŭng’s Two Orphans (To Konrad Püschel) angenommen hat: Jeweils zwischen zwei und vier Text- und Bildelemente sind auf insgesamt 13 Paneelen nicht in chronologischer, sondern in chronopolitscher Beziehung zueinander gesetzt worden. Die Form der Artikulation mag dabei näher zur Idee der Montage rücken, jedoch sehe ich die Installation vielmehr als eine Konstellation von Text- und Bild-Elementen, die als research display eine Reihe von Fragen aufwirft.[22]

Als Teil der Installation standen den Besucher*innen drei A2-Plakate mit jeweils einer Frage zum Mitnehmen zur Verfügung mit der Idee, die Frage nach den Untoten des Internationalismus, des sozialen Vertrages der Stadt und der Geopolitik von Architektur sprichwörtlich in die Stadt der Gegenwart zu tragen. In meinem Beitrag zu bauhaus imaginsta geht es also um eine Differenzierung der städteplanerischen Arbeit des Architekten Konrad Püschel mit der Idee, anhand des Stadtbauprojektes in Hamhŭng sowohl (1) zu einer Diversifizierung der Debatte um die Bauhaus-Geschichte beizutragen wie sie bauhaus imaginsta vorschlägt, indem das Bauhaus über die Extreme des Kalten Krieges hinaus problematisiert, d.h., über eine binäre Deutungshoheit wie Chicago vs. Moskau situiert wird, als auch (2) einen Architektur-Internationalismus aus der DDR vorzuschlagen, welcher zugleich eine staatsformende sowie diplomatische Funktion unter Bedingungen des globalen Kalten Krieges hatte.

Im Konvolut der Fotografien von Konrad Püschels Reise nach Nordkorea der 1950er-Jahre ist die Aufnahme einer jungen Chemiewerksarbeiterin im Labor.[23] Die Chemiewerksarbeiterin lächelt leicht. Diese Geste erzeugt einen lachenden Blick. Ihre Augen schauen nach links so als ob sie den Blick zum Fotografen richten möchte, der sie dennoch nicht von ihrer Arbeit abhalten kann. Vielmehr führt ihr Blick sie in den Raum hinein, d.h., aus der Begegnung mit dem ostdeutschen Architekten-Fotografen Püschel hinaus: Sucht sie den Blick einer Kollegin im Raum? Denkt sie an Familienmitglieder, die einen der verheerendsten Kriege des 20. Jahrhunderts überlebt haben? Sie hat einen Schreibblock vor sich, der mittig aufgeschlagen ist und auf dem sie Forschungsergebnisse dokumentieren kann. In den Händen hält sie ein Thermometer, während vor ihr ein Regal mit zahlreichen Gasflaschen, Bechergläsern und Kolben aus Glas stehen. Sie trägt einen weißen Schutzmantel. Der Raum ist lichtdurchflutet. Durch ein großes Fenster tritt Tageslicht in das Chemielabor, durchströmt das Regal mit den Laborgeräten und lässt die rechte Gesichtshälfte der Chemiewerksarbeiterin erstrahlen. Ein Moment der Arbeit, des Wartens, des Forschens und des Blickes, der auch in Markers Coréennes seinen Ort gefunden hätte. Es ist ein Moment, mit dem der Architekt Konrad Püschel aus der DDR sich ein Bild von Nordkorea macht, das heißt, von der Provinz Hamgyŏng-namdo mit den dort lebenden Menschen nach dem desaströsen Krieg, über den die Parteizeitung Neues Deutschland in der DDR täglich berichtete. Hunderte fotografischer Aufnahmen machte er zwischen 1955 und 1959 während seines Aufenthaltes. Er besuchte nicht nur die Provinzhauptstadt Hamhŭng, sondern er dokumentierte in der Provinz Hamgyŏng-namdo vier von ihm definierte Formen des Siedlungsbaus mit Blick auf Machtverhältnisse verschiedener Gesellschaftsordnungen. Beispielsweise kommentiert er den Einfluss japanischer Kolonialisierung in Korea, welche Bauten der Industrialisierung in den Meergebieten hervorbrachte, mit: „Hier spricht nicht mehr die Gestaltung, sondern nur Technik und Ökonomie.“[24] Hier spricht auch ein Städteplaner, der in seinem Studium bei Hannes Meyer und Ludwig Hilbesheimer am Bauhaus in Dessau Architektur als gestalterische Praxis gelernt sowie ausgeübt hat.

Püschels Fotoalben enthalten zudem fotografische Beobachtungen von Naturlandschaften der nordkoreanischen Provinz, die Grabstätte der Eltern des Gründungskönigs Ri Song-Gä der Choson-Dynastie in der Nähe von Hamhŭng, reproduzierte Zeichnungen von Blockhäusern der Brandfeldbauern des Kaima-Hochlandes, ein gezeichneter Grundriss von Hamhŭng von 1956, etc. Im Fotoalbum sind die Landschaftsbilder teilweise zum Diptychon oder Triptychon zusammengefügt. Eine Fabrikanalage – es könnte auch eine Kolchose sein – ist in Farbe fotografiert, während alle anderen Aufnahmen im schwarz-weiß Kleinbildformat reproduziert wurden. Als ob die fotografische Beobachtung eine Anamnese einer nordkoreanischen Bauhistorie liefern könnte, um sowohl das noch wenig Existierende zu begreifen, welches der Korea-Indochina-Krieg hat nicht zerstören können, und um das Zukünftige in Hamhŭng zu planen. Denn der Wiederaufbau der Stadt Hamhŭng in Nordkorea durch die Bau-Arbeitsgruppe aus der DDR ist nicht nur ein Projekt der „brüderlichen Freundschaft“ im Kontext der internationalistisch-sozialistischen Aufbauhilfe der DDR an Nordkorea, sondern auch ein umfassendes stadtplanerisches Raumprogramm – eine Wohnstadt-Maschine wäre es zu nennen – zur Programmierung einer neuen bzw. sozialistischen Gesellschaft nach einem Krieg, der Infrastrukturen sowie Lebensräume zerstörte und Millionen von Menschen zur Flucht zwang. Mit anderen Worten, ähnlich wie die Gründung der DDR eine Konsequenz des Krieges ist, geht auch der Etablierung der DVRK ein Krieg von globaler Dimension voraus, dessen Waffenstillstand über Monate hinweg in der 1954 Geneva Conference der Vereinten Nationen ausgehandelt wurde.[25] Es scheint, als ob es die Macht des Krieges ist, die den Zustand der modernistischen Idee von tabula rasa, das als modernistisches Prinzip eines Plan Voisin gilt, herzustellen vermag. Denn in Nordkorea war es ein Krieg, der die utopische Idee von tabula rasa verwirklichte, eine neue Stadt ganz von Grund auf zu errichten. Der Zweite Weltkrieg war gerade vorbei. Mit anderen Worten, die Kluft innerhalb Europas war ein Symptom der Neuordnung eines globalen Gesellschaftssystems, das von konkurrierenden Mächten instrumentiert wurde, von denen die deutsche Mauer nur ein Beispiel war, während die Trennung von Korea nach 1953 ein weiteres ist: „es ist naiv zu fragen, woher der Krieg kommt: Die Grenze ist der Krieg,“ stellt Marker fest.[26] Der Zweite Weltkrieg war vorbei, während ein Dritter Weltkrieg bereits und sofort begonnen hatte: Der globale Kalte Krieg. Dabei ist der Korea-Krieg der erste Heiße Krieg im globalen Kalten Krieg – nur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist die verheerende Zerstörungskraft dieser Kriege, welcher die Bedingung schafft, eine neue, hier, eine sozialistische Gesellschaft zu konstruieren, zu verräumlichen, zu verorten, abzugrenzen, und zu programmieren. Dong-Sam Sin, Architekt und Projekt-Dolmetscher, schreibt dazu: „Als Einrichtungen, die für das Funktionieren des Lebens in dem Bezirk zu planen sind, kommen in Frage: Bezirksverwaltung, Kulturhaus mit Kino, Post, Polizei, Sparkasse, Hotel, Gaststätten, Kaufhäuser, Poliklinik, Apotheken, Handwerkerhof, zentraler Bauhof, Kohle und andere Lagerplätze, Betrieb der Straßenreinigung und Müllabfuhr, Feuerwehr und schließlich werden für die 11 oder 12 Wohnkomplexe noch Schulen, Kindereinrichtungen, Geschäfte und Gesundheitseinrichtungen erforderlich sein. Damit sind entscheidende Grundlagen für die Planung des Stadtbezirkes gegeben und es kann richtig losgehen mit der zweiten Etappe der Arbeit in Hamhŭng.“[27] Auf der durch Krieg entstandenen tabula rasa produziert diese Wohnstadt-Maschine eine sozialistisch-koreanische Gesellschaft in einer Verstrickung von administrativen, ökonomischen, vegetativen, medizinischen, logistischen, produktiven, sozialen und kulturellen Prinzipien, die dazu führen, „Korea (als) ein Beispiel für proletarischen Internationalismus“ zu besprechen.[28]

Neben der Dokumentation des Bestehenden ist das Besondere an Püschels Fotoalben auch die Dokumentation der Bauweisen, Technologien und Arbeitsschritten des Aufbaus der Stadt Hamhŭng selbst. Zahlreiche Aufnahmen beschreiben Schritt für Schritt die Produktion des „Wandblocks,“ einer Art Platte wie sie später im Plattenbau verwendet wurden, unter handwerklicher Leitung koreanischer Arbeiter*innen.[29] Teilweise reicht eine Fotografie der Situation nicht aus, sondern mehrere Fotos erzeugen eine Sequenz als ob sich Püschel eine Filmkamera gewünscht hätte, um den Verlauf in allen Gesten verfolgen zu können. Wohlgemerkt, wir sind in den 1950er-Jahren, d.h. die Verwendung von Fotomaterial folgt genau überlegt, es ist davon auszugehen, dass die Bilder mit dem Bewusstsein für limitierte Ressourcen gemacht wurden. Püschels detaillierte Fotodokumentation der Produktion der Platten-Wandblöcke, der Lehmformsteine und das Stampfen des Mörtels legt nahe, dass es sich hierbei zumindest teilweise um koreanische Bautechnologien handeln muss. Es bestätigt damit auch die vom Architekten und Projekt-Dolmetscher Dong-Sam Sin beschriebene Produktionsweise: „Der von alters her für Wohnungsbau in Korea genutzte Lehm sollte als Baustoff verwendet werden.“[30] Püschels Fokus auf der strukturellen Analyse einer nordkoreanischen Bauweise sowie die Involvierung nordkoreanischer Bautechnologien sind wesentliches Merkmal der Vorgehensweise des Wiederaufbaus der Industriestadt Hamhŭng durch Architekten/Stadtplaner wie Konrad Püschel aus der DDR.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Architektur-Internationalismus der DDR in Korea zwischen 1955 und 1962 nicht getrennt werden kann (a) von den Einschreibungen des Krieges, welcher erst das tabula rasa der Moderne zu erzeugen vermag. Es macht notwendig, wie die anti-koloniale Autorin und Architektin Samia Henni einfordert, die Geschichte der Architektur – auch die des Bauhauses – im Kontext von Imperialismus und Kolonialismus zu diskutieren, jedoch mit Fokus auf eben jene Praxisformen, welche imperialen Kriegen eine internationalistische Idee entgegenbrachten. Spezifisch für die Arbeit des Bauhaus-studierten Architekten Konrad Püschel muss auch sein Studium (b) der vorhandenen koreanischen Architektur sowie (c) der Austausch mit nordkoreanischen Arbeiter*innen zu der Reflektion dieses Architektur-Internationalismus hinzugezogen werden.[31] Dieser Ansatz scheint der radikal-modernistischen Utopie der tabula rasa die Notwendigkeit des Erinnerns an Vergangenes sowie die Praxis der am Aufbau einer Zukunft beteiligten Gesellschaft entgegenzusetzen. Dieses Verhältnis verschiedener Zeitlichkeiten ist komplex. Unmöglich, dieses Verhältnis als historisches Ereignis allein zu begreifen, sondern als Schichtung unterschiedlicher Zeitläufe. Seine Komplexität tritt dann zu Tage, wenn zwei Waisen der Geschichte, die wir hier Hamhŭng und Baubrigade genannt haben, „nach vielen Jahren des Exils“ wieder in Erscheinung treten, aber feststellen, dass ihre Dokumente in nicht zugänglichen Archiven liegen, nicht wahrgenommen werden, nicht vollständig sind, verstummt sind oder einfach bisher übersehen wurden.

Es ist genau in dieser Situation, in der ein Projekt wie bauhaus imaginista die Rolle der Skeptikerin gegenüber dem Etablierten sowie Kategorisiertem einnimmt. Es mag nicht zu einer völligen Verwandlung der vermeintlich etablierten Tochter a.k.a. Thronräuberin in eine „Ratte“ führen, wie Marker den Moment der Konfrontation beschreibt, sondern zu der Suche nach einer Sprache, welche das traumatische Ereignis durch eine Konstellation der Zeitschichten reflektiert und transformiert.

 

 

Footnotes

 

  1. ^ Chris Marker: Coréennes, Éditions du Seuil, 1959 (übersetzt von Doreen Mende für diesen Aufsatz). „The tale says that an orphan, rediscovering her parents’ home after many years of exile, had the surprise of finding herself there already – a double of herself, identical down to the smallest detail, who obviously greeted her as an intruder. Until the day when a neighbor (a skeptic) came to see them – with a cat. At the sight of it, the usurper jerked bolt upright with fright and took her true form again – that of a rat.“ (Englisch Version, S. 9, übersetzt von Brian Holmes)
  2. ^ „Der Klub gliedert sich in zwölf Abteilungen: er hat einen Theaterraum mit 500 Plätzen und eine Filmapparatur aus der DDR.“ Bildunterschrift zu Zentralbild/Tautz, 4.3.1960, 71248/2N, Bundesarchiv, BArch DL 2/4413.
  3. ^ Im Original auf Englisch, www.flickr.com/photos/kernbeisser/albums (aufgerufen am 2. September 2019). Im September 2019 hat das Album „Hamhŭng“ 18.281 Besucher.
  4. ^ Zu erwähnen ist unter anderem: Die 16-klassige Handelsschule in Damaskus, realisiert 1956 als Kooperationsprojekt zwischen Syrien und der DDR: siehe Hans Präßler in Deutsche Architektur, 6. Jahrgang, 1957, Heft 10, S. 578–579. Das Glaswerk Hai-Phong, Volksrepublik Vietnam: siehe Deutsche Architektur 13, Sept. 1964) S. 539. Die Regierungsdruckerei in Tema in Ghana: siehe „Ghana: Regierungsdruckerei in Tema,“ Deutsche Architektur 13, Sept. 1964, S. 540–547.
  5. ^ Hideo Tomita: „A Survey of Korean Settlements by Konrad Püschel, a Graduate of the Bauhaus“, The 13th Docomomo International Conference Seoul 2014, Korea, Session 17 (Asian Modernity) 27. September 2014. National Museum of Modern Art and Contemporary Art, Seoul, S. 416–418; Norbert Korrek: „Konrad Püschel – Städtebauer in der Sowjetunion, Nordkorea und der DDR“, in: Philipp Oswalt (Hg.): Hannes Meyers neue Bauhauslehre. Von Dessau bis Mexiko, 2019, S. 483–496; Daniel Talesnik: The Itinerant Red Bauhaus, or the Third Emigration, PhD Thesis (2016) in Architectural History and Theory, Graduate School of Architecture, Planning and Preservation, Columbia University, New York, ABE Journal (Architecture Beyond Europe), Jg. 11, 2017.
  6. ^ Felwine Sarr: Habiter le monde – Essai de politique relationnelle, Montréal: Mémoire d’encrier, 2018, S. 11.
  7. ^ Vortrag von Arjun Appadurai: The Graduate Institute, Geneva, 25. April 2017.
  8. ^ Terry Smith: in: Hal Foster (ed.): Questionnaire on „The Contemporary“, OCTOBER 130, Fall 2009, S. 51.
  9. ^ Olivia Lory Kay: „Gathering in the orphans: essay films and archives in the information age,“ in Journal of Media Practice, Vol. 11, Nr. 3, 2010, S. 265.
  10. ^ Fredric Jameson: The Ancients and the Postmoderns. On the Historicity of Forms, 2015, S. 253.
  11. ^ Young-Sun Hong: Cold War Germany, the Third World, and the Global Humanitarian Regime, Cambridge University Press, New York 2015; Dong-Sam Sin: „Die Planung des Wiederaufbaus der Städte Hamhung und Hungnam in Nordkorea durch die DAG-Städtebaubrigade der DDR von 1955 bis 1962. Eine städtebaugeschichtliche Abhandlung aus der Sicht eines Zeitzeugen,“ Dissertation, HafenCity Universität Hamburg, Hamburg 2016.
  12. ^ Ebd.
  13. ^ Die rechtspopulistische Partei AfD wirbt im Landtags-Wahlkampf 2019 mit Parolen wie „Wir sind das Volk“ mit denen Demonstranten aus der DDR 1989 auf die Straße gingen.
  14. ^ Siehe: Anna Abrahams, Sotsgorod: Cities For Utopia, 1996, 92 min.
  15. ^ Young-Sun Hong: Cold War Germany, the Third World, and the Global Humanitarian Regime, Cambridge University Press, New York 2015, S. 60.
  16. ^ „Die Deutsche Arbeitsgruppe besteht aus der Leitung (erster Leiter war Fritz Seltmann, zweite Leiter der Genosse Prässler), der Gruppe Projektierung und Städtebau (erster Leiter und Chefarchitekt war Genosse Hans Grotewohl, zweiter Chefarchitekt Herr Kurt Wickmann, danach Claus Peter Werner nur für Hochbau und erster Städtebaubaubrigadier Herr Konrad Püschel, danach Peter Doehler – Ergänzung durch den Verfasser), der Bauausführung (danach als Leiter vorgesehen Genosse Erich Seltmann) und der Gruppe Kfm. Abteilung (Leiter Genosse de Leuw). Die Gruppenleiter sind gleichzeitig Stellvertreter des Leiters der Arbeitsgruppe. Voraussichtlich wird die Arbeitsgruppe im Jahre 1956 etwa 150 Mitarbeiter umfassen. Die Mitnahme von Familienangehörigen (Frauen und Kinder) in bestimmtem Umfange ist gesichert.“ Siehe: Sim, 2016, S. 50.
  17. ^ Shalini Randeria, in: Unraveling ties: from social cohesion to new practices of connectedness, 2002, S 284–311.
  18. ^ Gabrielle Hecht: Entangled Geographies: Empire and Technopolitics in the Global Cold War, 2011.
  19. ^ Dong-Sam Sin: „Die Planung des Wiederaufbaus der Städte Hamhung und Hungnam in Nordkorea durch die DAG-Städtebaubrigade der DDR von 1955–1962,“ 2016.
  20. ^ Gayatri Chakravorty Spivak: Death of a Discipline, Columbia University Press, New York 2003, S. 82.
  21. ^ Elizabeth Freeman: „Time Binds, or, Erotohistoriography,“ in Social Text 84–85, Jg. 23, Nr. 3–4, Herbst–Winter 2005, S. 61.
  22. ^ Neben den Fotoalben von Konrad Püschels Reise nach Nordkorea zwischen 1956 und 1959, zahlreichen Aufzeichnungen von Konrad Püschel sowie des Projekt-Dolmetschers Dong-Sam Sin, der Dokumentation zur „Reise nach Moskau“ und den Archiven der Vereinten Nationen in Genf zur 1954 Korea-Indochina Konferenz zählten deshalb Schriften der post-kolonialen Historikerin Young-Sun Hong zu einem wichtigen Gegenüber. Young-Sun Hong veröffentlicht über die Beziehungen von Korea mit dem geteilten Deutschland als Indikator eines „global humanitarian regime“ des Kalten Krieges, insbesondere auch in Hinblick auf emanzipatorische Politiken der Asian-African Bandung Conference von 1955 oder der Blockfreie Bewegung. Darüber hinaus schärfen zeitgenössische Debatten der antikolonialen Autorin Samia Henni sowie der Architekturtheoretikerin Ines Weizmann den Blick auf eine Architekturpraxis im Spiegel von Krieg, Imperialismus und Kolonialismus als strategisch-gestalterische Elemente.
  23. ^ Archivnummer I_018378_1_F, Stiftung Bauhaus Dessau.
  24. ^ Konrad Püschel: „Ein Überblick über die Entwicklung und Gestaltung koreanischer Siedlungsanlagen,“ Wissenschaftlichen Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, VI. Jahrgang, 1958/59, Heft 5, S. 475.
  25. ^ Bis heute ist der Abschluss eines Friedensabkommens Gegenstand von außenpolitischen Verhandlungen, Zeremonien, Verhaftungen und politischen Spektakeln zwischen Nordkorea und Südkorea bzw. den U.S.A.
  26. ^ Marker: Coréennes, S. 9.
  27. ^ Dong-Sam Sin: „Die Planung des Wiederaufbaus der Städte Hamhŭng und Hungnam in Nordkorea durch die DAG-Städtebaubrigade der DDR von 1955–1962,“ 2016, S. 77.
  28. ^ Max Zimmering: Land der Morgenfrische, 1956.
  29. ^ Es sei an dieser Stelle zu erwähnen, dass viele Arbeiterinnen auf den Fotos von Püschel auf den Baustellen zu sehen sind. Sie bedienen sogenannte Lattenlehren, die zur Ausrichtung des Wandblockes dienten, transportieren Lehmformsteine oder arbeiten im Chemielabor.
  30. ^ Dong-Sam Sin: „Die Planung des Wiederaufbaus der Städte Hamhŭng und Hungnam in Nordkorea durch die DAG-Städtebaubrigade der DDR von 1955–1962,“ 2016, S. 70.
  31. ^ Mit Blick auf die Forschung von Young-Sun Hong soll hier erwähnt werden, dass die Präsenz der Brigaden aus der DDR von den nordkoreanischen Partner*innen teilweise als hochproblematisch betrachtet wurden, die „made the former Japanese rulers pale in comparison“ Siehe: Hong: Cold War Germany, S. 69.

Konrad Püschel, Nordkorea-Reise, 1956–1959.

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